Vor einigen Tagen haben Sie in meinem Blog über Fehler und Unachtsamkeiten bei der Entdeckung des Gummis und der Polystyrol-Schaumstoffe gelesen, die später Milliarden eingespielt haben. Falls diese beiden Geschichten noch nicht gereicht haben sollten, Sie vom fröhlichen Fehlermachen zu überzeugen, dann vielleicht dieser Nachschlag. Diesmal aus dem Hause Bayer (als die Bayer-Kunststoffsparte, heute Covestro, noch so hieß) bzw. aus dem Hause IG Farben (als Bayer noch so hieß). Ich habe diese Story einmal für ein Kunststoff-Fachmagazin recherchiert – unter anderem an Hand von Unterlagen, die eigentlich in den Schredder sollten. Verrückt.
Griff in die chemische Resterampe
Ihr Protagonist ist Otto Bayer (nicht der Firmengründer, sondern ein anderer Bayer), ein junger Chemiker, der eigentlich vorhatte, so etwas wie Nylon zu erfinden. Das war damals frisch entdeckt worden und machte in Amerika gerade ziemlich Furore. Daher wollte man in Deutschland auch so was haben – aber ohne für die Patente zu zahlen. Wozu kaufen, wenn man etwas selber machen kann?
Und ja: Bayer hatte, wie wir heute wissen, Erfolg. Er nutzte für seine Experimente eine der letzten Reaktionen, die Chemiker damals im Werkzeugkasten hatten, um kleinere chemische Bausteine zu Kunststoffen zu verknüpfen. Fast alles andere aus den Lehrbüchern dieser Zeit war bereits irgendwo im Einsatz, aber an die sogenannte Polyaddition (Chemiker-Speak) so exotischer Bausteine wie„Isocyanate“ und „Polyole“ zu einem 2K-Kunststoff hatte sich noch niemand so recht herangetraut. Kein Wunder: Isocyanate macht man am besten aus Phosgen, das bekanntlich keinen so guten Ruf hat. Außerdem machte das die Herstellung der Rohstoffe etwas, nun ja: schwierig.
Polyurethane waren damals also so etwas wie der letzte Griff in die chemische Resterampe. Otto Bayer wagte ihn trotzdem. Gut: So was ähnliches wie Nylon waren seine Polyurethane dann zwar nicht. Man konnte zwar immerhin Borsten draus machen, aber Fasern: Fehlanzeige. Wahrscheinlich sind uns deshalb Polyurethan-Hemden erspart geblieben. Hurra.
Aber vielleicht konnte man ja wenigstens Lacke draus machen? Gesagt, geforscht: Einer von Bayers Mitarbeitern sollte sich einfach mal Gedanken über passende Komponenten für Beschichtungs-Polyurethane machen. Er gab sein Bestes. Aber immer wieder schwammen kleine Gasbläschen in der zähen Flüssigkeit in seinem Reaktionskolben. Konnte man aus sowas überhaupt wasserklare Lacke machen? Tja. Aber als gewissenhafter Forscher probierte er es trotzdem aus, könnte ja sein. Er gab seine Flüssigkeit also zusammen mit einer anderen PU-Komponente in einen Glasbecher – und die Mischung blubberte auf wie Eiskaffe, in den man mit einem Strohhalm pustet. Und erstarrte dann auch noch frech.
Sagen wir mal so: Weiter kann man eigentlich nicht daneben liegen. So ein Schaumpilz war ganz sicher das genaue Gegenteil von einem Lack: „Ein völlig unansehnliches Material, für das niemand Verwendung voraussah“, erinnerte sich einer der Beteiligten.
Sie Sache mit dem Schweizer-Käse-Imitat
Um das Zeug aus dem Kolben zu bekommen, musste der Chemiker sogar darauf herumhämmern, bis das Gefäß in Scherben lag. Der Lärm lockte immerhin seinen Chef aus seinem Büro, den großen Polyurethan-Erfinder Otto Bayer. Der fand die Sache dann schon mal ganz interessant. Wusste aber Zeitzeugen zufolge auch nicht recht, was man sich dafür jetzt kaufen konnte. Einer gerne verbreiteten Legende nach kam eine dieser Schaum-Proben später mit folgender Bemerkung aus dem Analysenlabor: Daraus kann man höchstens Schweizer-Käse-Imitate machen. Heute würde man sagen: OK, schiefgegangen. Fail. Hat nicht geklappt.
Aber, lange Rede, kurzer Sinn: Statt zu Käse entwickelte Bayers Team seine Laborkuriosität kurzerhand zu Polyurethan-Schaumstoffen weiter. Indem man genauer hin- und nachsah, was denn nun für das Malheur verantwortlich war (für Checker: etwas Säure in einem der nicht ganz sauberen Rohstoffe). Und wie man die Sache mit der Schaumbildung vielleicht irgendwie verfeinern konnte. Kleinere, etwa gleich große Bläschen, so Sachen. Später ließ man sogar tatsächlich Gas in die Mischung blubbern. Nur ohne Strohhalm.
Ende vom Lied: Alleine 2021 gab die Menschheit rund um die Welt etwa 50 Milliarden Dollar für Polyurethane aus, den größte Teil davon für PU-Schaumstoffe. Kein Wunder: Viele von uns schlafen auf Matratzen aus diesem Material, allein das ist schon mal eine Menge äh, Holz – über die Jahre hat man nämlich auch gelernt, PU-Schaumstoffe mit unterschiedlichen Härtegraden zu produzieren. Und solche, in denen man fast stecken bleibt. Fachleute glauben, dass der Schaumstoff-Anteil im PU-Berg noch weiter wächst, da man mit Schaumstoffen aus diesem Kunststoff auch ziemlich gut dämmen kann. Damit passen sie erst recht prima in unsere Zeit.
Die Sache mit dem übereifrigen Laboranten
Kann man das noch toppen? Ja. Sicher. Die letzte Story für diesen Artikel hat mit den meistverkauften Kunststoffen der Welt zu tun: dem Plastiktüten-Kunststoff Polyethylen (PE abgekürzt) und seiner etwas schlaueren Schwester Polypropylen (PP). Bis vor kurzem war PE noch an jeder Supermarkt-Kasse in Form von Einkaufsbeuteln zu haben und in Asien in Form von Müll in oder an nahezu jedem größeren Wasserlauf zu finden. Auch an seiner Wiege steht ein schief gegangenes Experiment.
Karl Ziegler, der heute als Entdecker der modernen Polyethylen-Synthese gilt, hatte damals, so um 1950 herum, nämlich auch etwas ganz anderes vor: Er wollte, ganz Grundlagenforscher, eigentlich nur mal gucken, was passiert, was Metalle wie etwa Aluminium mit dem Gas Ethylen anstellten, wenn man ihnen mit ein paar chemischen Tricks etwas Beine macht. Damals gab es bereits eine Hand voll geheimnisvoller Substanzen wie „Aluminiumtriethyl“, in denen sich ein Aluminiumatom praktisch in drei Ethylen-Moleküle einwickelt. Und wenn man ordentlich Ethylen draufpresste, griff es sich sogar noch etwas mehr davon aus der Umgebung und verknüpfte diese Gasmoleküle um sich herum zu kleineren Ketten – „Aufbau-Reaktion“ nannte man das.
Auf diese Weise konnte man tatsächlich so etwas wie eine Urform des heutigen Polyethylens machen – aber das war halt sehr aufwendig. Und Aluminiumtriethyl brennt wie Hölle, wenn da auch nur eine Spur Wasser oder gar Luft dran kommt – selbst erlebt. So kann man die kleinen Reaktoren praktisch nur in Gummihandschuhglaskästen wie aus Virus-Ausbruchs-Filmen füllen, die man vorher mit einem nicht brennbaren Gas geflutet hat.
Aber manchmal klappte nicht mal das mit dem Druck. Großes Rätselraten – was war da los? Nach einer Weile fand man immerhin heraus: Die Sache geht nur in bestimmten Gefäßen schief. Und zwar solchen aus Edelstahl. Heute würde man die wahrscheinlich wegwerfen – funktionieren halt nicht, fott domet, wie der Kölsche sagt.
Ziegler holte aber die Sherlock-Holmes-Lupe raus. Und bald hatte sein Team den (vermeintlich) Schuldigen: Einen Laboranten, der die Gefäße mit Salpetersäure gereinigt hatte – selbst für Stahl ein ziemlich, ziemlich scharfes Zeug.
Safari durch die Chemikalienschränke
Alles gut. Oder? Nun ja … Ziegler wollte der Sache noch weiter auf den Grund gehen. Lehrbücher raus! Was macht Salpetersäure eigentlich mit Stahl? Und Zack: Der wirkliche Bösewicht war gar nicht der Mitarbeiter mit dem übersteigerten Reinigungstrieb. Sondern das Metall Nickel. Edelstahl enthält etwas Nickel. Und Salpetersäure löst das da heraus. Und irgendwie hinderte dieses Element die Aluminiumatome daran, sich in Ethylen einzuwickeln.
Aber wie? OK: Das war erst einmal egal. Wichtiger war etwas ganz anderes: Ziegler war alarmiert und gab einem seiner Doktoranden den Auftrag: Gucken Sie doch mal, welche Metalle da vielleicht noch so stören, wer weiß. Und seine Leute in ihren weißen Kitteln griffen sich also die Fläschchen aus ihren Chemikalienregalen und gaben alles, was sie an Metallsalzen so hinter den Glastüren hervorholten, in ihre Kolben.
Und staunten nicht schlecht: Sie fanden zwar eine paar Metalle, die das Aluminium bei seiner Arbeit tatsächlich genau so störten wie Nickel. Aber – und jetzt kommt’s: eben auch ein paar andere, die für die „Aufbaureaktion“ ein regelrechter Booster waren. Zum Beispiel Titan, Zirconium oder Chrom. Etwas davon in die Reaktoren, „Aluminiumtriethyl“ und Ethylen drauf – und kurz darauf waren sie voll von einem weißen Zeug, das man kaum anständig herausgekratzt bekam: Polyethylen! Bang!
OK: Warum das jetzt auf einmal quasi mit Überschallgeschwindigkeit lief – das war dann tatsächlich doch ein Thema für spätere Forschergenerationen, darunter einige meiner Kollegen, siehe unten.
Aber damals war das erst mal nicht so wichtig: Zieglers Leute hatten einen Joker für ihre Aufbaureaktion gefunden, das reichte erst einmal. Vor allem ging die Ethylen-Verkettung damit sogar ohne Hochdruck – etwas später experimentierte Karl Ziegler sogar mit Einweckgläsern, die er in der Küche seiner Frau aufgestöbert hatte. Statt wie gewohnt mit Edelstahl-Reaktoren in Schutzschränken mit zentimeterdicken Türen – so sieht Fortschritt aus!
So wurde das sogenannte Niederdruck-Polyethylen erfunden, das uns über Jahrzehnte treu diente, heute allerdings von vielen leider als Problem gesehen wird (obwohl die alternativen Papierbeutel auch nicht gerade einen schlanken Umwelt-Fuß haben – aber das ist ein anderes Thema).
Zur Belohnung für den Fehler seiner Laboranten – und, OK, das genauer Hingucken später –, gab es wieder das übliche Patent. Von dem Zieglers Institut noch Jahrzehnte sehr gut lebte. Und später sogar einen Nobelpreis.
Machen Sie ruhig mal was falsch
Von den Patentgebühren hat mir Karl Ziegler übrigens – OK, wenigstens im Prinzip – meine Promotion bezahlt, denn ich habe an seinem Institut (lange nach seinem Tod) an meiner Doktorarbeit schrauben dürfen. Jahre später, als ich schon längst weg war, ging übrigens noch ein Nobelpreis dorthin. Ich kann mich also rühmen, an einer Institution „herumgedoktert“ zu haben, die zwei Nobelpreisträger hervorgebracht hat.
Hoffentlich bleibt auch davon etwas hängen.
Gut, um die Story noch schnell zu Ende zu bringen: Laut Wikipedia wurden schon 2011 von den wichtigsten PE-Typen (Zieglers Ur-PE wurde natürlich noch weiter entwickelt, heute gibt es -zig verschiedene Varianten) Jahr für Jahr über den Daumen über 60 Millionen Tonnen in die Läger der Kunststoff-Verarbeiter gefahren. Das ist eine ganze Menge, wenn man bedenkt, dass in diesem Jahr „nur“ 190 Millionen Tonnen Kunststoffe insgesamt in Säcke gefüllt wurden.
Und das oben erwähnte Polypropylen kann man mit Zieglers Methode auch machen – nochmal fast 45 Millionen Tonnen (Zahl aus 2020). Aus Polypropylen kann man sogar Auto-Bauteile herstellen. Das ist aber wirklich eine andere Story.
Eine großartig ausformulierte take home message spare ich mir hier aus Platzgründen. Aber ich denke, die ist ohnehin klar geworden: Fehler sind kein Mist. Sie können zu Milliardengeschäften werden! Eine moderne „Fehlerkultur“ bindet nicht nur qualifizierte Mitarbeiter, die keinen Bock haben, sich für kleine, menschliche Schnitzer anschnauzen zu lassen. Fehler können auch neue Wege eröffnen. Wenn man genau hinschaut.
Denn es ist ja so: Wer da, wo er gerade ist, keinen rechten Erfolg mehr hat, der muss neue Wege gehen. Ein kreativer Umgang mit Fehlern kann genau das: neue Wege eröffnen.
Machen Sie also ruhig ab und zu mal was falsch.
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