Warum eigentlich immer gegen den Strom schwimmen?
Neulich ist mir wieder eine von diesen Umfragen in die Hände gefallen, die einen doch etwas nachdenklich werden lassen. Demnach sei der Anteil der sehr zufriedenen Arbeitnehmer in den vergangenen Jahren von 68 auf 26 Prozent gefallen (Stand 2020); dafür säßen auf etwa einem Fünftel aller Arbeitsplätze Leute, die eigentlich gar keinen Bock mehr auf ihren Job haben. Kein Wunder: Immer mehr Menschen klagen über wachsenden Stress und steigende Anforderungen, konnte man da lesen.
Dabei kommt es auf die Prozentzahlen im Detail gar nicht einmal so sehr an. Auch wenn es jeweils nur die Hälfte wären, dürfte klar sein, dass da etwas in Bewegung geraten ist. Und zwar in Richtung Keller, fast möchte man sagen: in Richtung Folterkeller. Gut: Dass Menschen unzufrieden sind mit ihrem Job, vielleicht weil sie durch einen liebevollen elterlichen Stups an den Schreibtisch einer Versicherungsgesellschaft geraten sind, obwohl sie lieber Kunstschreiner oder Chirurg geworden wären, das kommt immer wieder vor. Dass aber derart viele Leute ihrem Boss am liebsten die Brocken vor den Chefsessel werfen würden, das ist zumindest mal interessant.
Längst ergraute Weisheiten
Wie oft in solchen und ähnlichen Fällen lohnt es sich, einmal einen Blick in den gesellschaftlichen Kreißsaal zu werfen, in dem unsere Überzeugungen geboren werden. Denn manchmal kommt es vor, dass früher mal sinnvolle Ideen durch ihre tägliche Anwendung so schartig geworden sind, dass sie uns inzwischen eher schaden als nutzen. Man darf sich durchaus wundern, was so alles rostig und räudig aussieht, wenn man es sich mal in Ruhe und mit einer Tasse Kaffe in der Hand aus der Nähe betrachtet – obwohl es von weitem besehen vielleicht strahlt wie ein Karate-Held, der für uns einen Granitblock nach dem anderen durchschlägt.
Eine dieser Weisheiten ist: „Du musst gegen den Strom schwimmen, wenn du Erfolg haben willst!“ Sagen wir mal so: Das war sicher mal eine gute Idee, als tatsächlich alle stromlinienförmig unterwegs waren. Irgendwann in den 1950ern vielleicht. Seitdem hat sich die Situation aber geändert: Heute versucht im Prinzip jeder, der etwas auf sich hält, gegen irgendeinen Strom zu schwimmen. Kein Selbstmarketing-Coach, der das seinen Zuhörern nicht immer wieder einbläut, mit dem ganz dicken Hammer.
Rebellisch oder nur erfahren?
Resultat: Ein großes Durcheinander, in dem sich am Ende niemand mehr auskennt. Wo bitte, geht es hier denn zu dem Strom, gegen den ich schwimmen soll? So wird jeder bislang ruhig dahin fließende Fluss zur schäumenden Stromschnelle, zum Strudel. Und wer versucht, in diesem Tohuwabohu auch nur halbwegs die Übersicht zu behalten, verbraucht Unmengen an Energie, die er vielleicht besser in seine Arbeit gesteckt hätte. Irgendwo muss die ja herkommen. Und Kraft ist nun mal endlich. Kein Wunder, wenn sich da mancher irgendwann ein wenig überfordert sieht.
Zuweilen wird es sogar ein wenig lächerlich. Vor allem in Kreativberufen wie etwa bei Künstlers versucht man sich gerne einen Namen zu machen, indem man angeblich sowas von gegen den Strom schwimmt und irgendetwas völlig anders macht als alle anderen. Am Ende kommen dabei aber auch wieder nur Skulpturen oder Bilder raus. Oder es wirkt irgendwie gewollt und übertrieben. Als zum Beispiel Georg Baselitz auf einmal Bilder malte, die auf dem Kopf standen, hieß es, er habe der Malerei einen völlig neuen Blickwinkel eröffnet. Irgendwann malte er Bilder wie Farbnegative auf schwarzen Leinwänden. Wow!
OK, der Mann ist ein cooler Typ, keine Frage. Und hier soll auch nicht er am Pranger stehen, sondern eher die Kunstkritik. Denn Bilder, die auf dem Kopf stehen, nimmt man tatsächlich etwas anders wahr, da pfuschen die üblichen Sehgewohnheiten nicht mehr so dazwischen. Aber: Mit der Zeit im Job eine eigene Handschrift zu entwickeln ist etwas völlig Normales – und noch lange nicht „gegen den Strom schwimmen“. Bei Kreativen sollte man sowas wie eine eigene Handschrift eigentlich sogar voraussetzen können. Über witzige Ideen derart auszurasten ist … etwas over the top.
Aus Prinzip gegen Bestehendes moppern ist dumm
Das Problem ist, dass der Satz mit dem Strom heute oft missverstanden wird und dadurch unnötigen Stress bringt. Natürlich macht es nach wie vor Sinn, ab und zu auch mal zu hinterfragen, was alle so denken. Aber wie immer macht auch hier die Dosis das Gift. Sagen wir mal so: Ein Naturwissenschaftler, der sich aus Prinzip gegen Einsteins Feldgleichungen wendet, nur weil die nun mal da sind, hat eine exzellente Chance, mit dieser Idee einen fulminanten Schiffbruch zu erleiden. Das ist zum Beispiel den Nazis passiert, die in Einsteins Formeln „jüdische Physik“ sahen und ihnen eine „germanische“ entgegenstellen wollten. Ging gründlich schief. Musste es auch.
Aus einem ähnlichen Grund werden auch Leute, die mit einem vermeintlichen Perpetuum mobile unterm Arm in ein Physikinstitut laufen, relativ schnell relativ freundlich, aber doch bestimmt wieder zum Ausgang begleitet. Zu viel hängt an dem tausend mal bewiesenen zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, mit dem so ein Ding nunmal auf Kriegsfuß steht. Letztlich sogar die Richtung des Zeitpfeils in unserem Universum, Stichwort: Alles entwickelt sich in Richtung Chaos. Noch nie hat jemand gesehen, dass eine zu Boden gefallene Tasse sich auf den umgekehrten Weg macht und in der Hand wieder zusammenfindet. Ein Perpetuum mobile kann aus einem ganz ähnlichen Grund nicht funktionieren. Und wenn doch, dann kann man auch rückwärts durch die Zeit reisen. Melden Sie sich, wenn Ihnen das mal passiert.
Warum ausgerechnet in die Gegenrichtung
Dabei es ist durchaus aller Ehren wert, Leute wie den guten Albert Einstein hin und wieder mal herauszufordern und nachzugucken, ob er wirklich tatsächlich und unter allen Umständen recht hatte. Spoiler: Bis jetzt ja – seine Theorien gehören zu den bestens bestätigten der Menschheit, einmal abgesehen vielleicht von der Erkenntnis, dass Chuck Norris bis unendlich zählen kann. Mehrmals hintereinander.
Aber es kann ja durchaus sein, dass es irgendwo plötzlich wirklich nicht mehr passt – dann schaut man mal genauer hin und entdeckt vielleicht etwas Neues (wobei man da inzwischen wirklich sehr, sehr genau hingucken müsste). So funktioniert Wissenschaft und so entstehen Physik-Nobelpreise. Außerdem hätten vor allem Astrophysiker heute durchaus noch ein paar Fragen an das Zunge-Raus-Genie, das aber durchaus selber ein paar Fragezeichen in Bezug auf seine Theorien im Kopf hatte. Die Quantenmechanik etwa beißt sich immer noch mit der Relativitätstheorie, selbst wenn es um so was simples wie die Schwerkraft geht, insbesondere in schwarzen Löchern (die Einstein absurd fand, die inzwischen aber sogar fotografiert wurden). Da sieht man seit Jahrzehnten Leute mit ratlosen Gesichtern vor ihren Tafeln stehen.
Egal: Die Message ist: Es kann durchaus sinnvoll sein, nicht immer unbedingt volle Kanne gegen den Strom schwimmen zu wollen. Zumindest nicht ausgerechnet in die Gegenrichtung. Ab und zu gucken, was links und rechts so los ist, reicht oft völlig. Das nennt man heute „achtsam sein“.
Im Strom gelten Regeln, die man nur als Mitschwimmer kennt
Übrigens wird auch andersrum ein Schuh draus. Mit dem Strom schwimmen bedeutet ja nicht nur, treudoof dem Leitlachs hinterherzuhecheln, sondern auch, die Regeln zu kennen, die im Rudel, im Schwarm, herrschen. Erst das versetzt einen ja in die Lage, mitzuspielen – und die Regeln vielleicht sogar für sich zu nutzen. Ein Verkäufer zum Beispiel, der „gegen den Strom schwimmt“ und seinen Kunden immer vor den Koffer haut, wird irgendwann beim Jobcenter klingeln müssen.
Vielleicht erinnern Sie sich in diesem Zusammenhang an die Publikumsbeschimpfungen, die irgendwann in den 1970ern in einigen auf revolutionär gebürsteten Theatern en vogue waren. Zunächst fanden das alle toll, weil das so total gegen den Strom und gegen alle üblichen Regeln war, so frisch, mal was anderes halt, haha, da hat man sich gerne auch mal verbal züchtigen lassen und am Ende sogar applaudiert. Ging ja auch um die richtige Haltung, und so richtig doof waren da ja immer die anderen.
Keine Lust mehr auf Schimpfe
Aber irgendwann war man das dann auch Leid und ist eben nicht mehr hingegangen. Selbst die ernste Musik, die sich zwischenzeitlich in weitgehend publikumsbefreite Zwölftonsphären verabschiedet hatte, greift mittlerweile wieder zu Dur und Moll, nur eben anders als zu Zeiten von Mozart & Co.
Gut, man darf wohl davon ausgehen, dass ihm die aktuell zu Ehren kommende Harmonik trotzdem die gepuderte Perücke gezaust hätte; uns stört das heute nicht weiter, weil unsere Hörgewohnheiten sich mit der Zeit auch geändert haben. Also, um im großen Bild zu bleiben, der Strom, in dem wir schwimmen, vielleicht eine Kurve genommen hat. Übrigens, wer einmal leicht verstört einem Song in Industrial-Ästhetik gelauscht hat: So was ähnliches gilt auch für die Pop-Musik. Schade um die Energie, die in so viel Musik geflossen ist, die außerhalb ätherischer Zirkel, die unbedingt gegen den Strom schwimmen wollten, eigentlich niemand so recht lieb gehabt hat (zumindest mein Eindruck).
Gegen etwas anzuschwimmen ist also manchmal gar nicht nötig, weil sich die Dinge eh ändern.
Aber ich schweife ab. Bleiben wir kurz bei unserem Verkaufsprofi: Sobald der einmal erkannt hat, nach welchen Regeln unser Geist, unsere Seele funktioniert, kann er Athenern Eulen verkaufen und Fischen Fischstäbchen. Gut: Das Befolgen von Regeln hat für ihn höchstens den Nachteil, dass man sich vor solchen Leuten auch schützen kann, wenn man das Räderwerk, nach dem wir funktionieren, selber kennt.
Egal. Merke: Mit dem Strom zu schwimmen kann auch Vorteile haben. Was nicht heißt, dass es ab und an mal nötig sein kann. Man sollte halt nur die Kirche im Dorf lassen und sich nicht täglich einen Mordsstress damit machen.
(Das war Teil I. Teil II folgt in einer Woche.)
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